Ein Spaziergang durch die Seele des Wedding

Welche Dämonen stecken in uns? Welche kommen im Coronazeiten ans Tageslicht? Emily Hunt hat ihre Gedanken dazu in etwa handgroße Keramikfiguren fließen lassen. Als versponnene Hexen, entspannte Hippie-Gnome oder traurige Kinder haben sie das Schaufenster der Galerie Wedding in der Müllerstraße 146 bezogen. Alle Figuren sitzen auf kleinen Vorsprüngen vor einer lila Holzwand, sie haben schlangenartige Gliedmaßen, lackierte Fingernägel, bunte Kleidung, die auch ein Umhang oder ein bequemer Bademantel sein könnte. Einige tragen im Gesicht eine Art Kriegsbemalung.

hunt figur1 dhKeramikfiguren von Emily Hunt in der Schaufensterausstellung. Foto: Hensel„Jobcenter. Aufgeladene Orte – Psychic Places“ ist der Titel der Kunstschau der im Wedding lebenden Australierin Emily Hunt. Bis zum 15. Mai kann die Ausstellung durch das Galeriefenster betrachtet werden. Zu sehen sind auch verrückt anmutende Kraftringe. Sollen sie den Betrachtenden Kraft geben in schweren Zeiten? Die Ringe thronen auf Händen mit langen, grauen Fingern. Auf ihren sind Gegenstände und Worte drappiert: „Wedding“ steht darauf, „Beim Dicken“, „Jobcenter“ oder auch „Winzling“. Jeder kann seine Ermutigung wählen. Das betrifft natürlich auch die Menschen, vor der überwiegend zum Sozialamt umfunktionierten Galerie geduldig auf Einlass warten. Viele von ihnen nehmen die kleinen Figuren hinter der Fensterscheibe gar nicht wahr. Wer sie entdeckt, hat ein wenig Kurzweil in der Warteschlange und Kunst im Vorbeigehen erlebt.

Zum Rathausvorplatz hin ist eine handgezeichnete Karte in Fenster aufgehängt. Sie zeigt „Aufgeladene Orte“, die die Künstlerin bei Spaziergängen als besonders anziehend oder besonders abstoßend erlebt hat. „Psychogeografischer Spaziergang durch meinen Kiez im Wedding“ nennt Emily Hunt ihre Begegnung mit den Orten. Wer die einem Wimmelbild ähnliche, reich colorierte Zeichnung betrachtet, findet den Flakturm im Humbolthain, ein Optikgeschäft, die Bibliothek am Luisenbad, das Mini Kaufhaus, eine Nachtbar, einen Juwelier und vieles mehr.

hunt figur2 dhBlick in die Schaufensterausstellung. Foto: Hensel

„Die Psychologie der Orte“ hat Emily Hunt mit ihrer Karte festhalten wollen. Gleichzeitig regt sie die Betrachtenden an, hinauszugehen und die Orte zu besuchen, sich hineinzufühlen in den Wedding und sich eigene Gedanken zu machen. Ihre Gedanken hat sie auf der Rückseite der Karte gedruckt. Wer möchte kann sich vertiefen in kurze Texte, die das Lebensgefühl des Weddings zu greifen versuchen. Die Vorderseite ist gleichfalls eine Einladung zu einer langen Betrachtung, bietet sie doch viele schöne grafische Details. Wer Glück hat, der kann an der Galerie ein gedrucktes Exemplar des Posters mitnehmen.

Beide Teile der Ausstellung von Emily Hunt sind nicht nur ästhetisch, sie greifen auch sehr beherzt nach der Seele des Wedding und bieten zudem sehr viel Unterhaltung und interessante Anstöße zum Denken und zum Spazieren. Was könnte es in Coronazeiten Schöneres geben?

hunt plakat1 dhDas Poster mit den aufgeladenen Orten im Wedding. Foto: Hensel

hunt plakat2 dhAuf der Rückseite des Posters stehen die Gedanken der Künstlerin zu den Orten auf der Vorderseite. Foto: Hensel

Text und Fotos: Dominique Hensel