Gegen den Irrsinn: BoostCamp motiviert für die Demokratie

Menschen, denen die zunächst schleichenden und inzwischen immer offensichtlicheren Veränderungen in unserer Gesellschaft in Richtung Intoleranz, Abschottung, Nationalismus keine Ruhe lässt, haben in unserem Kiez im September ein so genanntes BoostCamp veranstaltet.

Und dieses BoostCamp stand inhaltlich in ziemlichem Kontrast zu den natürlich nicht zufällig fast gleichlautenden BootCamps, in denen Rekruten des Militärs hinsichtlich Disziplin, körperlicher Fitness und Unterordnung oft unmenschlichen Drill erleben. Das BoostCamp hingegen ist hier, um alle die zu unterstützen, die sich dafür entschieden haben, Themen wie Sexismus, Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung, Homophobie und Islamfeindlichkeit nicht als gottgegeben hinzunehmen und diesen im Alltag entschieden entgegentreten. Und dort wiederum gibt es die Parallele zum BootCamp: So wie die Grundausbildung angehenden Soldaten das Rüstzeug für den militärischen Alltag geben soll, so vermittelt das BoostCamp wertvolles Handwerkszeug im Kampf für die Demokratie. Das BoostCamp findet im Rahmen des vom Quartiersmanagement (QM) Pankstraße geförderten Projektes “Antidiskriminierung durch Prävention” statt.

So trafen sich am 15. und 16. September insgesamt 85 Menschen, um im OSZ Kim in der Osloer Straße miteinander zu diskutieren, Spaß zu haben und ganz praktisch Demokratie zu üben. Herrlicher Sonnenschein taucht nicht nur die Koloniestraße in weiches Spätsommerlicht, als am Samstagmorgen das OSZ Kim die Tore für das BoostCamp öffnet. „Arsch hoch – Demokratie retten!“ ist das plakative Motto der Veranstaltung, und offensichtlich fühlen sich viele davon angesprochen. Jedenfalls herrscht schon 15 Minuten vor dem Start ein buntes Gewimmel auf dem Hof und im Veranstaltungssaal. Mal umgehört, wer sich hier so trifft: Das Spektrum reicht vom interessierten Nachbarn über im Kiez aktive Träger und Initiativen bis hin zu Menschen aus anderen Berliner Stadtteilen, die von der Veranstaltung Wind bekommen haben. 

Wir treffen Jana Faus, Vorsitzende von Artikel 1 – Initiative für Menschenwürde e.V., die das BoostCamp im Rahmen des QM-Projektes „Antidiskriminierung durch Prävention“ veranstaltet. Frage an sie: Worum geht es heute hier? „Wir wollen die Menschen sensibilisieren für die Belange der Demokratie. Und wir wollen sie motivieren und zeigen, dass Engagement sich lohnt, ja sogar Spaß macht“, antwortet sie. „Unser Ziel ist ein friedliches und aufgeschlossenes Miteinander von Kulturen, Religionen, Lebensentwürfen und Lebenswelten. Wir wollen, dass die Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Das ist gerade hier im Wedding wichtig, wo viel davon nebeneinander existiert“, ergänzt Kajo Wasserhövel, der zweite Vorsitzende bei Artikel 1.

Projekt Antidiskriminierung Boostcamp 2018 2Projekt Antidiskriminierung Boostcamp 2018 2


Dass dies eine zutreffende Beobachtung ist, kann man gleich darauf bei der Eröffnung des Workshop-Wochenendes sehen. Menschen jeglichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, sexueller und religiöser Orientierung sitzen im gut gefüllten Auditorium und lauschen zunächst den Begrüßungsworten von Helmut Jäger, der Schulleiter am OSZ Kim ist. Er erzählt, dass er spontan und sehr gern seine Räume zur Verfügung gestellt hat. Denn seine Erfahrung ist, dass Demokratie nicht mehr als so selbstverständlich empfunden wird wie es noch in seiner Schulzeit der Fall war – und da wolle er gern unterstützen. 

Auf ihn folgt Sükran Altunkaynak, QM-Teamleiterin in der Pankstraße. Sie werde oft gefragt, ob dieser Kiez denn überhaupt so ein Projekt brauche, denn es gäbe ja so viele Ausländer hier, erzählt sie. Ihre Schlussfolgerung: Gerade diese Frage zeige, dass dieses Projekt hier mehr als dringend benötigt wird.

Und dann kommt Kajo Wasserhövel mit einem kurzen inhaltlichen Einführungsstatement. Der Verein Artikel 1 will mit der Veranstaltung gegen den “Mahlstrom des Irrsinns” ankämpfen, der sich in den letzten Jahren breit mache. Wasserhövel erinnert an das Bild von Goya “Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer”. Er fordert eindringlich zum Aufwachen auf. Am 9.11.2000 sei er damals dabei gewesen, als eine riesige Demonstration mit mehr als 250.000 Teilnehmern unter dem Titel “Aufstand der Anständigen” gegen Ausländerhass organisiert wurde. Im Rückblick wissen wir, dass zeitgleich die NSU-Morde begannen. Und auch heute wieder gibt es Kräfte in der Gesellschaft, welche die Grundachsen unseres Zusammenlebens verschieben wollen. Für die Auseinandersetzung mit ihnen soll das BoostCamp Motivation liefern. Und so hoffe er, dass die Teilnehmer nicht komatös, sondern energiegeladen und mit viel Lust, etwas zu machen, aus dem Wochenende gehen, schließt Wasserhövel unter Beifall.

Sodann begibt sich Jana Faus in die Praxis des Workshops. Assistiert von ihrem kleinen Sohn stellt sie die Leiter der einzelnen Workshops vor. Schnell wird klar, dass sich hier ein wirklich spannendes und anregendes Wochenende verbringen lässt. Das Spektrum reicht vom klassischen Rhetoriktraining in Zeiten des aufkommenden Rechtsextremismus über Hate-Speech samt möglichen Gegenstrategien, Entwürfe für ein einverträgliches Zusammenleben in der Zukunft, das innovative Format Redesign Democracy bis hin zu Workshops zu den Inhalten Feminismus und Rassismus. Die anschließende Verteilung der Teilnehmer auf die einzelnen Angebote zeigt, was gesellschaftlich gerade unter den Nägeln brennt: Gerade dort, wo es um Konzepte gegen rechts geht, finden sich viele Interessenten.

Nun gilt es für alle Teilnehmenden, sich noch schnell einen Kaffee oder Tee zu ziehen und sich dann in die intensiven Auseinandersetzungen mit den Themen des Tages zu stürzen. Nach einer ausführlichen Mittagspause kann man den Workshop wechseln, sodass alle sich ihr eigenes Tagesprogramm stricken können. Zusätzlich dazu gab es die Angebote DemokraTisch, an dem aktuelle Themen diskutiert werden, und einen Campaigning-Workshop mit den Kommunikations-Profis Kajo Wasserhövel und Hans Langguth.

Der Sonntag begann mit einer Podiumsdiskussion zu Glaubensfragen, besser gesagt zur Glaubens- und Religionsfreiheit. Wo muss man aufgrund seines religiösen Bekenntnisses mit Diskriminierung rechnen und wie kann man ihr begegnen – so das Thema der Diskussion, in die auch viel von den persönlichen Erfahrungen der Menschen auf und vor dem Podium einfloss. Und wem dies alles nicht reichte, der konnte sich auf dem Markt der Begegnungen, der die gesamte Veranstaltungszeit begleitete, miteinander vernetzen und neue Projekte andenken oder in Bewegung setzen.

So endet die gemeinsame Zeit für die meisten Besucherinnen und Besucher mit der Erfahrung, ein ausgezeichnet organisiertes und thematisch profund vorbereitetes Wochenende erlebt zu haben. Viele bedauern, dass die Zeit für eine noch tiefere Auseinandersetzung nicht ausgereicht habe und es praktisch unmöglich gewesen sei, sich zwischen den Worshopthemen zu entscheiden. Ein Besucher hätte es gern gesehen, wenn bei der Podiumsdiskussion auch die Frage eine Rolle gespielt hätte, inwieweit Religionen bzw. religiös motivierte Menschen selbst auch diskriminierend agieren. Das Thema sei zu seinem Bedauern ausgeklammert geblieben.  

Was konkret die Teilnehmenden von diesem Wochenende mitnehmen, wollen wir wissen. „Zum einen, dass ich noch viel mehr Zeit brauche, um mich mit diesen Themen auseinander zu setzen. Vor allem, wie ich Diskriminierung entgegentrete, insbesondere, wenn sie gegen mich persönlich gerichtet ist. Andere verteidigen fällt mir leichter“, antwortet ein Teilnehmer. Eine Teilnehmerin berichtet, dass ihr die Zahl und Vielfalt der Teilnehmenden imponiert habe, denn bei ihr sei der Eindruck geblieben, dass es viele sind, die sich für Demokratie und mehr Menschlichkeit engagieren wollen. Eine andere hebt vor allem den Workshop „Echte Demokratie geht nur feministisch“ hervor, der ihr tiefe Einsichten vermittelt habe. Und ein Pärchen berichtet, dass es sich nun fast darauf freue, in Diskussion mit Menschen „von der anderen Seite“ zu kommen – so gut fühlten sie sich nach diesem Wochenende dafür präpariert. 

Das deckt sich mit den Aussagen der Veranstalter von Artikel 1. Sie meinen, dass Teilnehmende im BoostCamp Antworten auf folgende Fragen finden: Wenn ich eine Kampagne machen will, wie funktioniert das eigentlich? Wenn ich in einer Diskussionsrunde diskriminierenden Argumenten begegne, wie reagiere ich da? Mit welchen rhetorischen Möglichkeiten kann ich da klug erwidern, um wieder ein normales Gespräch führen zu können? Dafür und für vieles mehr bietet das Format der BoostCamps – denn es gibt viele weitere in ganz Deutschland – Trainingsrunden mit erfahrenen Trainerinnen und Trainern an.

Kommen wir zum Schluss noch auf den Veranstalter Artikel 1 – Initiative für Menschenwürde e.V. zu sprechen. Grundsätzliches Anliegen des Vereins ist es, das Know-How aus der Kommunikationsbranche für die Demokratie verfügbar zu machen. Ende 2015 fanden sich deshalb Menschen, die in Kommunikationsagenturen, in Unternehmensverbänden oder bei NGOs arbeiten, zusammen und gründeten Artikel 1. Sie wollten das, was sie beruflich machen – wie geht man richtig mit Worten um, wie sorgt man für Aufmerksamkeit –weitergeben und in den Dienst der Demokratie stellen. Kajo Wasserhövel: “Es geht jetzt darum, dass die große Mehrheit, die sozusagen auf dem Boden des Grundgesetzes lebt, sich zusammenfindet, aktiv wird und sich zu Wort meldet. Dabei wollen wir unterstützen.”

Ein erster, erfolgreicher Schritt in diese Richtung ist bei uns im Kiez getan. Weitere werden folgen. Wir können uns darauf freuen!

Text und Fotos: Johannes Hayner